Integrativ-kooperatives Schulkonzept in Eberswalde

Historischer Abriss 1947 bis April 2007

Die Landesschule für Gehörlose wird unter schwierigen Bedingungen aufgebaut

In den letzten Kriegsmonaten des II. Weltkrieges mussten die gehörlosen Schüler der östlich der Oder gelegenen Gehörlosenschulen Posen, Stettin und Guben in Richtung Westen fliehen und waren bis 1947 in Notunterkünften in Pritzwalk und Marquardt (bei Potsdam) untergebracht. Am 21. April 1947 fanden die in alle Winde zerstreuten gehörlosen Kinder in Eberswalde eine neue Bleibe. Laut der seit damals geführten Chronik fanden die gehörlosen Kinder und deren Pädagogen folgende Bedingungen vor: Zwei arg mitgenommene notdürftig ausgestattete Häuser der Landesanstalt sind Schule und Heim. 150 Kinder besuchen die Anstalt. Ihre Zahl steigt bald auf 190. Der vorhandene Raum reicht nicht aus. Es fehlen alle Nebenräume. Von den bestellten Möbeln kommen nur wenige primitive Tische und Bänke. Die Schlafsäle sind überbelegt. Eine Obererzieherin und vier Erziehungshelferinnen betreuen nach besten Kräften die Kinder in der Schule wurde in dreizehn Klassen emsig und planmäßig gearbeitet. Direktor Gotthold Lehmann, bis zum Kriegsende Leiter der staatlichen Gehörlosenschule in Berlin, leitete damals den Neuaufbau brandenburgischer Gehörlosenbildung ein. Er verließ aber 1950 aus politischen Gründen Eberswalde.

In den 50er Jahren wechselten Schul- und Internatsleitungen infolge von Unstimmigkeiten und der einsetzenden Republikfluchten einiger Mitarbeiter häufig. 1956 entstand der erste Hilfsschulteil in einer neuen Schulbaracke in Sophienhof bei Eberswalde. Dieser neu entstandene Gehörlosen-Hilfsschulteil zog 1958 in das Hauptgebäude. Die Gehörlosenschule wurde aufgelöst, die gehörlosen Schüler gingen u. a. nach Güstrow.

Eberswalde wird zur einzigen Gehörlosenhilfsschule der DDR umgestaltet

"Im Schuljahr 1958/59 erfolgte die einschneidende Maßnahme des Ministeriums für Volksbildung (der DDR) Berlin: Die Schule wird in die Gehörlosenhilfsschule verändert unter dem Aspekt, den Aufbau einer voll ausgebauten Hilfsschule zu vollziehen, vergingen Jahre ernster Arbeit".(Zitat Chronik)

Da es für eine solche Schulform keinerlei Vorbilder in der Geschichte der Gehörlosenbildung gab, hatten die Kollegen zwei Hauptaufgaben zu bewältigen:

  1. Im Rahmen der pädagogischen Neuorientierung mussten Inhalte (Lehrpläne) und Methoden neu bestimmt werden.
  2. Zur Diagnostik musste ein treffsicheres Diagnoseverfahren erarbeitet werden. Hier machte sich ab 1960 Hans - Joachim OHRT verdient mit seiner Dissertation zur rehabilitationspädagogisch-psycholoischen Differenzialdiagnostik im Auswahlverfahren der Gehörlosen-Hilfsschule.

Der Chronik ist zu entnehmen: Ab 1. September 1964 wurden dort 12 gehörlose Berufshilfsschüler als Helfer in den Fachrichtungen Gärtnerei und Hauswirtschaft in zweijährigem Turnus ausgebildet. Später wurde der Berufshilfsschulteil durch andere Gewerke erweitert.

Ein Vorschulteil ergänzte im Schuljahr 1984/85 das Bildungsangebot der Gehörlosenhilfsschule in Eberswalde.

Zeit nach der Wende

Mit der Wende kamen zwei neue große Probleme auf die Schule zu:

  1. Infolge der nun geltenden Länderhoheiten musste die bisherige zentrale Einrichtung dem Land Brandenburg unterstellt werden. Die Schule wurde 1991 in Förderschule für Hörgeschädigte mit der Aufnahme hörgeschädigter Schüler aus dem Land Brandenburg umbenannt.
  2. Wegen der schlechten materiell- sächlichen Bedingungen in den alten Gebäuden machte sich ein Umzug erforderlich.

Die gehörlosen Schüler, die bis 1991 im Stadtbild von Eberswalde bekannt und präsent waren, zogen 1991 in das Schulgebäude und zwei Internatshäuser der ehemaligen Pionierrepublik Altenhof am Werbellinsee. Dort hatten die hörgeschädigten Schüler zwar gute materielle Rahmenbedingungen zum Lernen, die idyllische Lage weitab der Stadt war aber ungünstig für die Integration in die hörende Umwelt. Diese Übergangslösung stellte alle Pädagogen vor eine neue Herausforderung. Zeitgleich begleitete die Förderschule für Hörgeschädigte Altenhof Herr Prof. Dr. GÜNTHER von der Uni Hamburg bei den ersten konzeptionellen Überlegungen zur Rückführung aller hörgeschädigten Schüler in die Stadt Eberswalde.1995 begann die kooperative Zusammenarbeit mit der Grundschule Westend in Eberswalde. Die damaligen 1. Klassen beider Schulen trafen sich einmal in der Woche zum gemeinsamen Unterricht. Da die Schüler untereinander kaum Verständigungsprobleme hatten, wurden die Kontakte vielfältiger und enger. 1998 konnte die erste eigenständige Hörgeschädigtenklasse in die Grundschule Westend eingeschult werden. Von nun an lernten die hörgeschädigten Lernanfänger in aufsteigenden Klassen in der Grundschule Westend.

Entwicklung des integrativ- kooperativen Schulkonzeptes am Schulstandort Westend/Eberswalde

Im Schuljahr 2000/01 wurde das integrativ-kooperative Schulkonzeptes weiterentwickelt und dem Schulträger, der Stadt Eberswalde, vorstellt. Auch das Staatliche Schulamt Eberswalde sowie die Schulleitung der Gesamtschule Westend in musste nun in die weiteren Planungen mit einbezogen werden.

Den Schulstandort Westend wählten diese Beteiligten zusammen mit der Schulleitung der Förderschule für Hörgeschädigte aufgrund des gut strukturierten ruhigen Wohngebietes, der Nähe zu den öffentlichen Verkehrsmitteln und den dort bereits vorhandenen räumlich-sächlichen Bedingungen für körperbehinderte Schüler aus.

Im folgenden Schuljahr begannen auch die notwendigen hörgeschädigtenspezifischen Umbaumaßnahmen in der benachbarten weiterführenden Gesamtschule Westend. Gleichzeitig fanden vielfältige gemeinsame Projekte der Gesamtschule und der Förderschule für Hörgeschädigte Altenhof, wie Projekttage, Tage der offenen Tür und Fortbildungsveranstaltungen für die Lehrer der Gesamtschule statt.

Zum Beginn des Schuljahres 2002/03 zogen die restlichen fünf noch in Altenhof verbliebenen Hörgeschädigtenklassen unter das Dach der Gesamtschule Westend. Somit waren alle hörgeschädigten Schüler und Sonderpädagogen in die beiden Eberswalder Schulen integriert. Hier wurden die bewährten Höhepunkte gemeinsam vorbereitet und umgesetzt. So fanden z. B. Sportfeste, Wandertage, Klassenfahrten von nun an immer gemeinsam statt.

"Wir hätten uns nicht vorgestellt, dass es so normal läuft!", so Hendrik Arndt, Kunstlehrer Kar-Sellheim-Schule

2003 erprobten erstmalig einige hörgeschädigte Schüler den Besuch von Erweiterungs- Kursen (E-Kursen) Mathematik/Chemie/Physik und Deutsch. Diese angestrebte Durchlässigkeit ermöglicht es auch unseren hörgeschädigten Schülern unter Regelbedingungen sich langsam aus dem Schonraum der Förderklassen heraus zu begeben. Mit dem Schuljahresbeginn 2005/06 wurden im Land Brandenburg alle Realschulen und Gesamtscbulen in Oberschulen überführt.

Aus heutiger Sicht kann nach den ersten gesammelten Erfahrungen eine positive Bilanz gezogen werden. Die zum Beginn unseres Zusammenwachsens geäußerten Ängste und Bedenken konnten relativ schnell zerstreut werden. Durch eine langjährige schrittweise Umsetzung des Konzeptes und der ständigen Präsenz der erfahrenen elf Sonderpädagogen konnten auftretende Schwierigkeiten gemeinsam behoben werden. Inzwischen fühlen sich die hörgeschädigten Schüler, deren Eltern und auch alle Pädagogen an diesem Schulstandort wohl.

Ab September 2006 bereitete eine Arbeitsgruppe den 60. Jahrestag des Beginns der Hörgeschädigtenbildung in Eberswalde vor. Diesen Schulhöhepunkt beging der neue integrativ-kooperative Schulstandort Grund- und Oberschule Westend im April 2007 mit einer Projektwoche, einem Schulfest und einer Festveranstaltung feierlich.

Einige wesentliche Aspekte zur Kommunikation der hörgeschädigten Schüler damals und heute

Das wichtigste Kommunikationsmittel neben der Schriftsprache und den Daktylzeichen war in der Zeit des Bestehens der Gehörlosenhilfsschule (1958 - 1991) die lautsprachbegleitende Gebärde. Mitte der 60er Jahre erstellten einige Kollegen eine schulinterne Gebärdenbroschüre. Nach unseren bisherigen Erkenntnissen könnte dieses Heftchen das erste deutschlandweite Gebärdenbüchlein sein.

Da zu DDR-Zeiten technische Hörhilfen immer nur im begrenzten Umfang zur Verfügung standen, war es bis zur Wende üblich, dass unsere gehörlosen Schüler Taschenhörgeräte von der Firma Oticon trugen. Kurzzeitig stellte eine Dresdner Firma in den 60er Jahren auch selbst Taschenhörgeräte her, deren Produktion wurde aber relativ schnell wieder eingestellt. In den Klassenräumen standen Gemeinschaftshöranlagen zur Verfügung.

Durch den damaligen Stand der Technik (an Cochlear-Implantate war noch lange nicht zu denken) konnten die meisten Schüler mit Hilfe der einfachen Hörhilfen nicht zum Erwerb der Lautsprache geführt werden.

Unter den Kollegen wurden in den 60er und 70er Jahren teilweise heftige Dispute geführt, welchen Vorrang Gebärde und Daktylzeichen gegenüber der Lautsprache hatten. Von Anfang an wurde man sich in Diskussionen in verschiedenen pädagogischen Schulgremien einig, dass für gehörlose Hilfsschüler die Einheit aller Kommunikationsmittel genutzt werden muss.

Schüler mit besseren Hörresten konnten aber durch die intensive Hör-Sprecherziehung auch in den Erwerb der Lautsprache geführt werden.

Die Daktylzeichen wurden erst zum Beginn der 60er Jahre in Eberswalde eingeführt. Dazu bekam jeder Schüler ein kleines Fingeralphabetkärtchen. Alle gehörlosen Schüler lernten auch schnell, dass sie immer Papier und Bleistift mit sich tragen mussten, damit sie beim Einkaufen in der Stadt die wichtigsten Dinge aufschreiben konnten. Auch kam bei Missverständnissen diese Kommunikationshilfe zum Einsatz.

Nach der Wende verbesserte sich die Hörtechnik zusehends, Hinter-dem-Ohr-Hörgeräte und Cochlear-Implantate standen für alle hörgeschädigten Schüler zur Verfügung. In den Klassenräumen wurden neben anderen Baumaßnahmen Mikroportanlagen und Schallfeldverstärker installiert. Dies erforderte von den Hörgeschädigtenpädagogen eine Neuorientierung auf den hörgerichteten Spracherwerb. Heute steht für den Großteil unserer hörgeschädigten Schüler das Erlernen der Lautsprache als wichtigstes Kommunikationsmittel im Mittelpunkt.

Im Schulstandort Westend konnten alle Klassenräume für unsere Hörgeschädigtenklassen mit Teppichboden ausgelegt werden. Wichtige visuelle Hilfen, wie z. B. Klingelblitzanlagen und Overheadprojektoren erleichtern das Mitkommen im Schulalltag. Durch das Schaffen dieser hörgeschädigtenspezifischen Rahmenbedingungen können heute unsere Schüler entspannter dem Unterrichtsgeschehen folgen.

Wünschen wir auch im nächsten Jahrzehnt unseren anvertrauten hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern und deren Pädagogen eine kontinuierliche Weiterentwicklung dieses in Deutschland einmaligen integrativ-kooperativen Schulstandortes für Hörgeschädigte!

Danksagung

Die Autoren bedanken sich sehr herzlich bei unserer verehrten ehemaligen Kollegin Ursula Ohrt für wichtige inhaltliche Schwerpunkte und hilfreiche Hinweise bei der Entstehung dieses Beitrages. Ohne diese wertvolle Zusammenarbeit hätten wesentliche Aspekte der Hörgeschädigtenbildung in den 50er, 60er und 70er Jahren in Eberswalde nicht zusammengetragen werden können.

Verfasserin: Anita Hänel, ehemalige Sonderpädagogin der Hörgeschädigteneinrichtung